Gesundheitswesen 2020; 82(12): 961-968
DOI: 10.1055/a-1205-1021
Originalarbeit

Der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung nach Einführung der elektronischen Gesundheitskarte: die Sicht geflüchteter Patient(inn)en

Access to Health Care After the Introduction of the Electronic Health Card: Views of Refugee Patients
Kristin Rolke
1   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld
,
Judith Wenner
1   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld
,
Oliver Razum
1   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Ziel der Studie Der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Geflüchtete wird bundesweit in den Kommunen unterschiedlich organisiert, sowohl im Hinblick auf die Organisation von (sozialarbeiterischen bzw. kommunalen) Unterstützungsangeboten als auch durch die Wahl des Zugangsmodells (elektronische Gesundheitskarte/eGK-Modell oder Behandlungsschein/BHS-Modell). In den letzten Jahren haben einige Bundesländer und Kommunen die Versorgung geflüchteter Patient(inn)en auf das Zugangsmodell mit eGK umgestellt. Wir analysieren auf Grundlage von Daten aus Nordrhein-Westfalen, wie sich der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung aus Sicht Geflüchteter gestaltet und welche Rolle das Versorgungsmodell (eGK vs. BHS) dabei spielt.

Methodik In 3 Kommunen in NRW (2 mit BHS und eine mit eGK) wurden insgesamt 31 Interviews mit Geflüchteten zu 2 Erhebungszeitpunkten (Aufenthalt in Deutschland ≤ 15 und > 15 Monate) geführt, um den unterschiedlichen Anspruch auf Versorgungsleistungen zu berücksichtigen. Dabei sollte eine maximale Variation der Interviewpartner(inn)en in Bezug auf Alter, Geschlecht, chronische Krankheiten, Schwangerschaft und Elternschaft erreicht werden. Die Interviews wurden mit Unterstützung von Dolmetscher(inne)n geführt. Die Transkripte der Interviews wurden computergestützt (atlas.ti8) durch eine Inhaltsanalyse ausgewertet.

Ergebnisse Der Genehmigungsprozess durch das Sozialamt führt in Kommunen mit BHS-Modell zu zusätzlicher Wartezeit für (Weiter-) Behandlungen. Der direktere Zugang durch das eGK-Modell sowie der Wegfall der Leistungseinschränkungen nach 15 Monaten Aufenthalt können den Zugang zur Versorgung besonders für chronisch erkrankte Geflüchtete erleichtern. Der Erstkontakt mit dem Gesundheitssystem erfolgt meist mit Unterstützung von Sozialarbeiter(inne)n, Freund(inn)en oder Familienmitgliedern.

Schlussfolgerung Für Geflüchtete mit einem höheren Versorgungsbedarf kann der Zugang durch das eGK-Modell erleichtert werden. Weitere Zugangsbarrieren, wie z. B. die beschränkte Verfügbarkeit von Dolmetscher(inne)n, bestehen unabhängig vom Zugangsmodell.

Abstract

Aim of the study Access to healthcare for newly arrived refugees and asylum seekers is organised differently in the municipalities throughout Germany, both with regard to the organisation of support services and the choice of an access model (electronic health card/eHC or healthcare voucher/HcV). Some German states and municipalities have introduced the eHC model in the last years. Using the example of North-Rhine Westphalia (NRW), Germany’s largest state, we analyse how access to healthcare is organised from the point of view of refugees and what role the healthcare model (eHC vs. HcV) plays for their access to healthcare.

Methods In 3 municipalities in NRW (2 with HcV and one with eHC), 31 interviews were conducted with refugees at 2 points in time (duration of stay in Germany ≤ 15 and > 15 months) in order to account for the different legal entitlements to healthcare. To include different perspectives and challenges, we ensured maximum variation of the interview partners with regard to age, gender, chronic diseases, pregnancy and parenthood. The interviews were conducted with the support of interpreters. The transcripts of the interviews were evaluated using computer-assisted content analysis (atlas.ti 8).

Results In municipalities with a HcV model, the approval process at the social welfare office leads to additional waiting time for (continued) treatment. The more direct access through the eHC model and the elimination of entitlement restrictions after 15 months of stay can facilitate access to care, especially for chronically ill refugees. Initial contact with the health system is usually facilitated by social workers, friends or family members.

Conclusions The eHC model can facilitate access for refugees with higher healthcare needs. Further access barriers, such as the limited availability of interpreters, exist independently of the access model.



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Article published online:
31 August 2020

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